Nur ein Gott – Kapitel 3

Der Pfarrer führte sie durch eine Tür hinter dem Altar. Sonja hatte gelesen, dass die Grundmauern 500 Jahre alt waren, aber der Flur, den sie jetzt betraten, war deutlich jünger. Lieblos hatte man Räume an die Kirche geklatscht und mit einem Korridor verbunden. Grünes Linoleum auf dem Boden, dunkle Holzvertäfelung an den Wänden und ebenfalls grüne Türgriffe aus Plastik. Es roch muffig nach einer Mischung aus abgetretenen Teppichen, Bodenversiegelung und Zigarettenrauch der vergangenen Jahrzehnte. Sie kannte diesen Geruch – aus diversen Ämtern und aus ihrem Revier. Sonja war kein gläubiger Mensch, aber es tat ihr leid, dass dieses alte, ehrwürdige Gebäude mit einer derartigen Bausünde verschandelt wurde.
Sie betraten ein winziges Büro. Der Raum wurde von einem Schreibtisch aus Buchenholz dominiert, vor dem zwei schlichte Sessel standen. Der Geistliche wies mit der Hand in Richtung des Tisches. »Nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee oder Tee?«
Sonja nickte. »Ein Kaffee wäre sehr nett, ja.«
Sie setzten sich. Max Blick blieb an dem Kruzifix über dem Schreibtisch hängen. Er schluckte und zog sich am Hemdkragen.
»Ich bin gleich wieder bei Ihnen.« Der Pfarrer verließ den Raum.
Ihnen gegenüber führte eine weitere Tür aus dem Zimmer. An den Wänden standen Regale und Schränke, die optisch zu dem Tisch passten. Fein säuberlich reihten sich Ordner auf den Einlegeböden. Auf der Tischplatte lagen neben einem Computermonitor und den dazugehörigen Eingabemedien einige akribisch sortierte Schreibutensilien. Lediglich der Adventskranz lockerte die Atmosphäre auf und erinnerte an die Weihnachtszeit. Trotzdem wirkte auch er seltsam strukturiert und aufgeräumt. Sonja grinste und legte den Finger auf einen Stift und schob ihn etwa einen Zentimeter auf den Monitor zu. Sie war gespannt, ob der Pfarrer darauf reagieren würde.
Ihr Partner starrte weiterhin an die Wand.
»Max, was ist dein verfluchtes Problem?«
Er fuhr mit den Fingerspitzen über die Lehne. »Ich habe etwas Dummes getan. Ist jetzt nicht so wichtig.«
Sie deutete auf die Tür zum Flur. »Möchtest du etwas beichten?«
»Nein, ich bin doch nicht katholisch. Es ist nur …« Max seufzte. »Ein andermal, ja?«
Aus dem Nebenraum drang ein gedämpftes Gespräch. Sonja verstand nicht jedes Wort, aber der Pfarrer sprach mit jemandem über ihren Besuch. Sie lehnte sich zu ihrem Kollegen und senkte die Stimme. »Ist dir aufgefallen, wie nervös der Herr Pfarrer ist?«
»Wundert dich das? Niemand spricht gerne mit uns, wenn wir unangekündigt auftauchen. Und du musst ja immer gleich so förmlich werden.« Er legte den Kopf schief und verstellte die Stimme. »Kriminaloberkommissarin Sonja Junik und Kriminalkommissar Maximilian Aumüller.« 
Die Betonung ihres Rangs entging ihr nicht. »Der Mann war schon vorher nervös. Und ich denke, dass er am Altar mit jemandem gesprochen hat.«
Max nickte. »Ja, Sonja. Ganz mysteriös. Der Pfarrer, der beim Gebet spricht.« Er legte seine Hand auf ihren Unterarm und lächelte sie müde an. »Fehlt dir Hannover so sehr, dass du überall Verschwörungen sehen musst?«
Sie schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Sonja, auch für mich ist es frustrierend, wenn die Kollegen schlampig arbeiten. Wir klären das auf, okay? Aber verbeiß dich doch nicht so an diesem Pfarrer. Vielleicht sollte ich das Gespräch führen?«
»Ja, das ist eine gute Idee. Du könntest …«
»So«, unterbrach der Pfarrer ihre Unterhaltung und stellte ein Tablet mit Kaffeetassen auf dem Schreibtisch ab.
Er nahm den beiden gegenüber auf seinem Bürostuhl Platz und schob wie beiläufig den Stift an seine ursprüngliche Position zurück. Er lächelte ihnen freundlich entgegen. »Nun, was führt sie in meine Kirche?«
Max räusperte sich. »Wir haben da einige Fragen zu einem Ihrer Gemeinde-Mitglieder, Herrn Petko Vali. Sie kennen ihn?«
Der Priester nickte. »Ja, er ist … war zweimal die Woche Besucher einer unserer Gruppen. Was ist mit ihm?«
Sonja zog ihr Notizbuch aus der Jackentasche und beobachtete den Geistlichen. Max fuhr fort. »Vergangenen Montag wurde die Leiche eines Mannes im Fluss gefunden. Gestern konnten wir ihn als Petko Vali identifizieren.«
Shane Teague bekreuzigte sich und bewegte tonlos die Lippen. Sein Blick blieb aber an Max hängen und zeugte von Interesse und nicht von Trauer. Mit den Fingerspitzen fuhr er über die Stifte und Papiere auf dem Schreibtisch. »Im Fluss? Ist er ertrunken?«
Sonja nahm eine der Tassen in die Hand und verschob dabei einen anderen der Stifte auf der Platte. Ohne den Blick von seinem Gesprächspartner zu nehmen, schob ihn der Pfarrer an seine ursprüngliche Position zurück. Sie notierte ›Pedant‹ und ›distanziert‹ in ihrem Buch und nippte an dem Kaffee.
»Die genauen Todesumstände ermitteln wir noch. Derzeit prüfen wir, ob ein Fremdverschulden vorliegt, Sie verstehen also den Ernst der Lage. Sie sagten eben ›war‹. Folglich war Herr Vali schon länger nicht mehr in der Kirche?«
Der Pfarrer nickte und nahm einen Stift und einen Notizblock vom Schreibtisch. »Ja, seit bestimmt vier Wochen nicht mehr. Haben Sie seine Ehefrau schon erreicht? Ich sollte sie anrufen …« Er notierte in einer feinen und äußerst ordentlichen Handschrift einige Worte, die Sonja nicht erkannte. Die Notiz klemmte er an die Schreibtischunterlage und legte akribisch Stift und Block zurück. 
»Unsere Kollegen sind bei ihr«, bestätigte Max. »Aber sie wird sich sicherlich über Ihren Beistand freuen. Erzählen Sie uns doch etwas von Herrn Vali. Warum kam er zu Ihnen und wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« 
Im Büro hing eine schlichte Wanduhr. Ihr Sekundenzeiger tickte laut in die entstehende Stille. Der Pfarrer fuhr mit beiden Händen über die Tischkante und betrachtete sie dabei. Er seufzte und sah Max erneut an. »Sie werden vermutlich schon herausgefunden haben, dass Herr Vali Alkoholiker war. Deswegen war er hier, er hat zweimal pro Woche an den Treffen teilgenommen. Über deren Inhalt werde ich selbstverständlich nicht sprechen. Herr Vali hat vor etwa vier Wochen einen Rückfall erlitten und ist nicht mehr zu den Treffen erschienen. Etwa zu der Zeit habe ich ihn auch zuletzt gesehen. Ich hatte ihn gesucht und in einer Kneipe gefunden. Leider ließ er sich nicht ins Gewissen reden. Frau Vali habe ich danach noch einige Male gesprochen. Sie teilte mir mit, dass ihr Mann zu einem Freund gezogen sei, um etwas zur Ruhe zu kommen.« Sein Lächeln war verschwunden, und er zog die Brauen besorgt zusammen. 
Sonja notierte die Eckdaten seiner Aussage und Max fuhr fort. »Worüber hat Frau Vali mit Ihnen gesprochen? Gab es noch andere Probleme in der Ehe?«
Er schüttelte seinen Kopf. »Fragen Sie dies bitte Frau Vali. Ich kann darüber nicht sprechen.«
Max nickte und schaute in sein eigenes Notizbuch. Erneut erstreckte sich die Stille über einige Sekunden. Schweigen und darauf warten, dass der Gegenüber das Gespräch wieder aufnahm. Diesen Trick nutzte sie selbst häufig und es verwunderte sie nicht, dass der Priester diesen ebenfalls kannte. Sonja trank einen Schluck Kaffee, lehnte sich zurück und betrachtete den Geistlichen eindringlich. »Und auch am 30. November haben Sie ihn nicht gesehen?«
Irritiert schaute der Mann in ihre Richtung. »Wie? Nein … Na ja … eigentlich schon.« Er atmete tief aus und ordnete die Papiere auf einem perfekt geordneten Stapel.
Sonja fixierte den Priester mit den Augen. »Was denn nun? Ja oder nein? Da müssen Sie schon etwas genauer werden.«
Der Mann vermied Augenkontakt. »Er war gegen 21 Uhr am 30. November bei mir. Wir hatten einige Wochen vorher eine … Meinungsverschiedenheit in der Kneipe. Als ich ihn gesucht hatte. Dafür wollte er sich entschuldigen.«
Max schaute von seinen Notizen auf. »Meinungsverschiedenheit? Laut Zeugenaussagen haben Sie sich mit ihm geprügelt!«
Sonja blinzelte verwundert. Diesen Teil hatte Max vergessen, ihr zu erzählen. Ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. Sie hätte gerne gesehen, wie sich ein katholischer Priester und ein Betrunkener in einer Kneipe prügeln. 
Shane Teague hob die Hände und schüttelte den Kopf. »So kann man das nicht sagen. Er hat mich geschlagen, das war auch alles.« 
»Sie haben also nicht zurückgeschlagen?«
Der Pfarrer schaute auf die Schreibtischunterlage und tippte auf seinen Handrücken. »Herr Vali hat den Streit angefangen, ich habe ihn beendet. Wollen wir jetzt hier Wortklauberei betreiben? Er war darauf nicht stolz und suchte meine Vergebung.«
Sie vertrieb das Grinsen aus ihrem Gesicht. »Und? Haben Sie dem Mann vergeben?«
Er schüttelte erneut den Kopf. »Nein.«
Sonja atmete erstaunt aus. »Nicht? Was ist denn passiert?«
»Vergebung erfordert Reue. Und Herr Vali war an diesem Abend so betrunken, dass er dazu nicht in der Lage war. Deshalb habe ich ihn weggeschickt. Er sollte erst wieder kommen, wenn er nüchtern ist.« Der Geistliche stand auf und schritt zur Tür. »Leider werde ich Sie nun ebenfalls fortschicken. Ich denke nicht, dass ich weitere Informationen für Sie habe und muss noch einigen Verpflichtungen nachkommen.«
Sonja verfolgte seine Bewegungen irritiert. Der Pfarrer hatte ihnen scheinbar nicht die gesamte Wahrheit gesagt und warf sie raus. Irgendetwas verbarg der Mann hinter dem stoischen Lächeln. Doch es war ein Gespräch und kein Verhör. Es endete mit seinem Wunsch.
Sie seufzte und erhob sich ebenfalls. »Es tut mir sehr leid, dass wir mit unseren Ermittlungen zum Tod eines Menschen Ihre Adventszeit stören.«
Max schaute fragend zu ihr herüber, sie hob die Schultern und nickte ihm zu. »Aber natürlich wollen wir Sie nicht aufhalten. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« An der Tür blieb sie stehen und betrachtete den Priester. Sein braunes Haar lag makellos, das Kreuz um seinen Hals hing mittig auf den Knöpfen der Soutane. Trotz seiner Ablehnung lächelte er weiterhin freundlich auf sie herab. Er glich dem Bild aus dem Flyer so stark, als ob es erst vor wenigen Minuten aufgenommen worden war. Ihre Blicke trafen sich. Güte lag in seinen Augen und es war ihr, als wenn sie tief in ihre Seele schauten und sie wärmten. Sie schämte sich, dass sie so eine reine Person überhaupt verdächtigt hatte. 
»Sehr gerne«, murmelte er. Sonja starrte ihn weiterhin an. Sie hatte noch nie einen erwachsenen Mann mit so glatt rasierter Haut gesehen. Ihr fiel auf, dass ihr Mund offen stand. Sie schloss ihn und schaute schnell nach unten auf seine Kleidung. 
Mit dem Lösen des Blicks endete das Gefühl der Wärme und Geborgenheit. Trotzdem fühlten sich ihre Knie noch weich und ihr Mund trocken an. So hatte sie seit Jahren nicht empfunden.
Sonja atmete tiefer ein. Kaum wahrnehmbar, aber doch allgegenwärtig lag auch hier der Geruch von Weihrauch in der Luft. 
»Können wir?«, fragte Max neben ihr.
Schwarze Fasern und Spuren von Weihrauch hatte der Laborbericht gesagt. »Ich denke nicht«, raunte sie, »dass ich schon einmal einen Pfarrer in einer Soutane gesehen habe. Man sieht dies nicht mehr so häufig.«
Der Geistliche zog die Brauen zusammen. »Sie ist nicht mehr vorgeschrieben, ja.«
»Darf ich?« Ohne eine Antwort abzuwarten, streckte sie ihre Hand zum Ärmel des Priesters. Seine Finger zuckten kaum wahrnehmbar und er schluckte sichtbar, ließ sie aber gewähren. »Was ist das für ein Material?«
Er schaute über ihre Schulter auf das Regal. »Baumwolle.« 
»Berühren Katholiken Ihre Priester eigentlich häufiger?«
»Was? Nein!« Der Pfarrer starrte sie erschrocken an »Und ich habe jetzt wirklich Termine wahrzunehmen.« Er deutete auf den Gang.
Sie nickte. »Ja, natürlich. Entschuldigung.«
Sonja folgte Max in den Flur, blieb nach wenigen Schritten stehen und drehte sich zum Büro. »Ach, eine Frage noch. Tragen Sie eigentlich immer solche Soutanen?«
Die eine Hand des Priesters lag auf dem Türgriff, die andere stemmte er in die Hüfte. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. »Ich wüsste nicht, was Sie meine Kleidung angeht, aber ja. Falls Sie ein größeres Interesse an den Bekleidungsvorschriften des Klerus haben, lasse ich Ihnen gerne eine Kopie des Kirchenrechts zukommen. Guten Tag.« Er schloss die Tür.
Max blickte zur Tür und dann zu Sonja. »Was zum Geier sollte denn jetzt das?« Er beugte sich herab, um zu flüstern. »Wieso befummelst du den Pfarrer? Aber um deine Frage zu beantworten, ich glaube, dass die Priester eher die Katholiken berühren als anders herum.«
Sie betrachtete ihre Fingerspitzen und hielt sie ihm hin. »Schau, keine Fasern.«
»Bitte, was?«
»Wenn sich der Pfarrer und Herr Vali vier Wochen nicht gesehen hatten, dann können die Fasern nicht von ihm stammen. Oder aber sie hatten sich am 30. doch länger gesehen, als er es behauptet hat. Verstehst du?« Sie schritt in Richtung Ausgang.
Max kratzte sich am Kopf. »Ja, schon. Aber …«
»Mensch, Max! Der Mann muss kurz nach dem Treffen gestorben sein. Und an seiner Leiche sind Rückstände des Pfar…«
»Stop!« Er blieb stehen und hob die Hand. »Man hat schwarze Fasern gefunden. Die können auch von seiner eigenen Jacke kommen. Oder einem Schal. Oder keine Ahnung was.«
»Du hast ja Recht.« Sie seufzte. »Es ist nur … Hat sich der Pfarrer wirklich mit dem Verstorbenen geprügelt?«
Max grinste verstohlen. »Ja, laut seinen Saufkumpanen aus der Kneipe schon. Muss aber sehr kurz gewesen sein und Herr Teague scheint darauf auch nicht stolz zu sein.«
»Hat irgendjemand gesagt, was der Pfarrer in der Kneipe wollte?«
Ihr Kollege hob die Schultern. »Nein, vermutlich hat er sein verlorenes Schäfchen gesucht.« 
Sie hatten das Ende des Flures erreicht, der wieder in die Kirche führte. Neben einer der Türen teilte ihnen ein schlichtes Schild mit, dass sie das Sekretariat passierten. Max strich über seinen Notizblock. »So wirklich etwas erfahren haben wir aber nicht. Und schon gar nicht, was der Tote eigentlich nach seinem Kirchenbesuch getan hat, bevor er im Fluss gelandet ist.«
Sonja blieb stehen. »Vielleicht weiß die Sekretärin mehr. Das Schild sagt, dass sie jetzt Sprechstunde hat.« Sie klopfte und öffnete die Tür nach einem gedämpften »Herein«.
»Frau Retkowski?«
An einem Schreibtisch saß eine grauhaarige Dame und tippte am Computer. Sie schaute auf und nickte.
»Guten Morgen. Sonja Junik und Maximilian Aumüller von der Kriminalpolizei. Hätten Sie einen Moment Zeit für uns? Vielleicht können Sie uns eine Auskunft geben.«
Die Sekretärin nahm ihre Lesebrille ab. »Guten Morgen. Sie hatten eben mit Herrn Teague gesprochen, oder?« Ihre Stimme war kratzig und ließ sie noch älter wirken. »Nehmen Sie Platz. Womit kann ich ihnen helfen?«
Sonja und Max setzten sich. Auch in diesem Büro reihten sich die Unterlagen akkurat geordnet und säuberlich beschriftet in den Regalen. Allerdings wirkte der Raum weniger eingeengt. Zahlreiche Fotos von Katzen und Kindern auf dem Schreibtisch lockerten die Atmosphäre auf. Eine getöpferte Katzenfigur mit unnatürlichen Proportionen und bunter Bemalung hielt neben einem antiken Tintenfässchen Wache. Unter dem obligatorischen Kruzifix an der Wand hingen Gemälde von Kinderhänden gezeichnet.
»Von meinen Enkelkindern, sie malen gerne für ihre Oma, wenn sie mich besuchen.« Der Anblick versetzte Sonja einen feinen Stich ins Herz. Nach all den Jahren fiel es immer noch schwer, kinderreiche Frauen nicht zu beneiden. Die Sekretärin lächelte freundlich. »Möchten Sie einen Kaffee?«
»Nee, lieber nicht.« Max verzog das Gesicht. »Meine Frau sagt, ich trinke zu viel davon.«
»Ja, das hat mein Mann mir auch immer gesagt. Gott hab ihn seelig.« Sie strich über einen der Bilderrahmen und betrachtete die beiden Polizisten. »Nun, was führt Sie zu mir?«
Erst jetzt fiel Sonja auf, dass im Büro des Pfarrers kein persönlicher Gegenstand zu sehen gewesen war. Sie löste den Blick von den Bildern. »Es geht um Petko Vali, eines Ihrer Gemeindemitglieder.«
Frau Retkowski schnaubte und legte die Stirn in Falten. »Ich kenne ihn, ja. Hat sich Herr Teague doch noch zu einer Anzeige durchgerungen?«
»Wohl kaum, Herr Vali ist verstorben.«
Die Sekretärin riss die Augen auf und bekreuzigte sich. »Oh nein. Das … Es tut mir leid. Ich wollte nicht … tot? Ist er ermordet worden?«
Sonja blinzelte.
»Na, wenn Sie doch von der Kriminalpolizei sind.«
Max schüttelte den Kopf. »Wir ermitteln noch. Aber wir wissen fast nichts über Herrn Vali. Können Sie uns ein paar Fragen über ihn beantworten?«
»Ich weiß nicht. Man soll ja nichts Schlechtes über Tote sagen.«
Sonja tätschelte die Hand der Sekretärin. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Wir wollen uns ein genaues Bild machen und jede Information hilft da weiter. Auch, wenn sie vielleicht weniger schön ist.«
»Was möchten Sie denn wissen?« Sie lehnte sich zurück und nippte an einer Tasse.
»Hatte Herr Vali noch andere feste Treffen, außer denen in der Kirche?« Max klappte seinen Notizblock auf. »Oder traf man ihn an bestimmten Orten an?«
Die Sekretärin strich ihren Zeigefinger über den Henkel. »Mmh.« Sie schien einen Moment nachzudenken. »Eigentlich weiß ich gar nichts über den Mann. Tut mir leid. Ich weiß nur, dass er zweimal die Woche hier war und gelegentlich im Gottesdienst. Und ich habe Gerüchte über ihn und seine Frau gehört.«
»Was denn für Gerüchte?«
Sie hob die Schultern und mied die Blicke der beiden Kommissare. Max wartete geduldig auf eine Antwort.
Sonja nickte. »Der Mann war gewalttätig, oder? Zumindest hat er sich ja mit Herrn Teague geprügelt?«
Frau Retkowski drehte den Kopf zu ihr. Sie hatte das Gesicht verzogen und Zornesröte zeigte sich auf ihrer Haut. »Wer macht sowas? Unseren armen Pfarrer prügeln! Tagelang hat man ihm das angesehen!« Sie räusperte sich verlegen und schaute in ihre Tasse. »Äh … Mehr dazu wird Ihnen aber Herr Teague sagen können. Mir wurden die Geschichten nur zugetragen und ich will nicht wie ein altes Waschweib klingen.«
»Verstehe. Das war im November, oder?«
Die Sekretärin nickte.
Max tippte auf seinen Block. »Und dann haben die beiden sich erst wieder am 30. November gesehen? Herr Teague war mit ihm verabredet?«
»Wie?« Frau Retkowski schüttelte ungläubig den Kopf und blätterte in einem Terminkalender. »Das war ein Samstag. Das kann ich mir kaum vorstellen. Samstags ist Kommunionsunterricht und danach geht Herr Teague immer einkaufen und ist erst um 19 Uhr zurück.« Sie hielt den Kalender hoch. »Kein Termin eingetragen. Sind Sie sicher, dass es der 30. war?«
»Ja, ganz sicher, dass hatte uns Herr Teague sogar bestätigt. 30. November, 21 Uhr.«
»Oh, dann hat er das vergessen einzutragen.« Sie seufzte. »Ach, das sieht ihm ähnlich. Er kennt auch keinen Feierabend. Unser Pfarrer hat ein gutes Herz und lässt niemanden im Stich.«
Sonja deutete auf den Terminplaner. »Ihr Pfarrer scheint einen straffen Tagesablauf zu haben. Er wirkte etwas angespannt.«
»Wundert Sie das?« Sie klappte das Büchlein zu und legte es zur Seite. »Vor Jahren schon wurden die Gemeinden zusammengelegt. Wir haben hier genug Arbeit für mindestens zwei weitere Priester. Es ist ein Segen für uns alle, dass wir mit Herrn Teague einen so tüchtigen Pfarrer erhalten haben. Aber vor hohen Feiertagen ist immer so viel zu tun, dass er von morgens bis abends beschäftigt ist. Heute Morgen hat er sogar seinen Tee vergessen.«
»Macht er das häufiger?«
»Was meinen Sie?«
Sonja zeigte erneut auf den Terminkalender. »Dinge vergessen. Sie sagten eben, dass er das Treffen vergessen hat einzutragen. Aber sie sagten auch, dass Herr Teague immer zur gleichen Zeit einkaufen geht. Er wirkt sonst eher ped… sehr ordentlich.«
»Eigentlich nicht. Er ist wirklich sehr akkurat. Herr Rohn sagt immer, dass man nach ihm die Uhr stellen könne. Wie gesagt, wir haben sehr viel zu tun. Unser Pfarrer kümmert sich wirklich aufopferungsvoll um die Gemeinde.«
»Ist er sehr beliebt?«
»Aber ja! Seit er hier ist, kommen die Leute auch wieder.« Ihre Augen glänzten und ein entzücktes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. »Es ist wieder wie damals…« Frau Retkowski seufzte und schaute zu Sonja. »Wieso sprechen wir jetzt eigentlich über Herrn Teague?«
»Hat sich so ergeben.« 
Max räusperte sich. »Um nochmal auf Herrn Vali zurückzukommen. Haben Sie irgendeine Idee, wohin er nach seinem Besuch hier gegangen sein könnte? Haben Sie vielleicht darüber ein Gerücht gehört?«
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Nein, tut mir leid. Fragen Sie mal in den Kneipen hier in der Gegend. Die Straße hinterm Park führt zu einer. Aber passen sie da auf, so ein anderer Trunkenbold hat auf der Brücke vor einigen Wochen die Lampen kaputt gefahren und vor dem nächsten Jahr wird die Stadt das wohl nicht richten.«
Er schnaubte. »Ich erinnere mich.«
Die Sekretärin schaute sie erwartungsvoll an. »Hatten Sie noch andere Fragen?«
Sonja erhob sich. »Nein, das war eigentlich alles. Vielen Dank für Ihre Zeit.«
»Sehr gerne.« Sie blickte ihnen bis zur Tür hinterher und wandte sich wieder Ihrem Computer zu.
Schweigend betraten sie das Kirchenschiff. Die Buntglasfenster ließen den Altarbereich nicht mehr orange, sondern in einem Türkis leuchten. Sonja betrachtete die Szenerie für einen Moment. Die Instagram-Seite hatte ein Bild mit ähnlichen Farben gezeigt. »Max, wir haben gar nicht wegen dieser Internetseite gefragt.«
Er folgte ihrem Blick und drückte ihre Schulter. »Na, dann hast du wenigstens einen Grund, deinen Pfarrer nochmal zu sprechen.«
»Es ist nicht mein Pfarrer.«
»Du hast aber einen ganz schönen Narren an ihm gefressen.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Er verschweigt uns etwas und ich denke, dass es mit dem Toten zu tun hat.«
»Lass uns doch erstmal zurück ins Revier und nachher in dieser Kneipe nachfragen. Vermutlich ist der Mann dorthin, um seinen Kummer zu ertränken.«
Max hatte Recht, die Kneipen waren die beste Möglichkeit, um mehr über den Verstorbenen zu erfahren. Sie nickte und verließ mit ihrem Kollegen die Kirche. 

Ein Gedanke zu „Nur ein Gott – Kapitel 3“

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert