Nur ein Gott – Kapitel 4

Shane drückte die Tür fest zu und legte seine Stirn an das Holz. 
Er hatte die Polizisten angelogen.
Durch die Tür hörte er ihre Stimmen. Sie unterhielten sich über ihn. 
»Du bist ein sündiger kleiner Pfarrer. Es ist nicht zu spät! Öffne die Tür, ruf sie zurück, gestehe und dein Gewissen ist rein!«
Die Kommissarin sprach von Fasern. Hatte sie deshalb seinen Ärmel so unerwartet angefasst? Die beiden entfernten sich von der Tür und er verstand die Worte nicht mehr. Shane zog sich zum Schreibtisch zurück und verbarg das Gesicht hinter den Händen. Wenn sie tatsächlich gegen ihn ermittelten, hatte er eben seine eigenen Ideale verraten. Niemals lügen! 
Für sein Wesen gab es Gründe. Er hatte dieses Mysterium vor Jahren versucht, zu verstehen und hatte schlüssige Antworten für sich gefunden. Aber er hatte sich auch Grenzen und Verpflichtungen gesetzt. Keine Kinder, niemanden, der schmerzlich vermisst werden würde. Gründlich arbeiten, genau abwägen und niemals Risiken eingehen. Und sollte er Fehler machen, hatte er sich geschworen, mit der Polizei zu kooperieren. 
Er hatte die Polizisten angelogen.
Aber er war doch ein guter und frommer Mensch. Deswegen hatte Pfarrer Schmidt ihn überhaupt ermutigt diesen Weg einzuschlagen, obwohl er von seinen Sünden gewusst hatte. Gerne hätte er den alten Mann um Rat gefragt. Shane zog den Rosenkranz aus der Tasche, den er von ihm erhalten hatte. Gedankenverloren strich er über die Perlen.
Warum hat er mich damals nicht zur Polizei geschickt?
»Er war doch verwirrt. Erinnerst du dich an seine Reaktion?«
Er erinnerte sich an seine Tränen. An die Dunkelheit des Beichtstuhls. Außerhalb der Kirche hatten Sirenen geheult und eine Tram war vorbei gerumpelt. Weil man in Berlin einfach überall eine Tram und Sirenen hörte. Die Aufregung hatte ihm die Kehle zugeschnürt und er hatte nur Bruchstücke gestammelt. Er hatte vorher extra die Begriffe in seinem Wörterbuch nachgeschlagen und sie doch vergessen. Pfarrer Schmidt hatte Fragen gestellt. Sie hatten geredet. Irgendwann hatte der Geistliche ihm gesagt, dass er sich nicht fürchten müsse. Gott liebe alle Menschen und würde ihm verzeihen, wenn er denn jetzt ein frommes Leben führen würde. Der Mann hatte ihm mit einem Lächeln die Absolution erteilt.
Shane stöhnte auf und rieb seine Schläfen. Rückblickend bezweifelte er, dass Pfarrer Schmidt ihn richtig verstanden hatte.
»Ist deine zarte Seele jetzt nicht mehr so rein?«
Er hatte versucht, es nicht zu tun. Hatte gegen das Verlangen erfolglos gekämpft. Am Ende hatte er es akzeptiert und sich dem Schicksal ergeben. Für jeden Toten hatte er Buße getan. Er führte ein ehrenvolles Leben im Namen seines Herrn, der ihm vergeben würde. Sein Seelenheil stand niemals auf dem Spiel. Dies war sein vorherbestimmter Weg. 
Shane hatte ihn erneut gehen müssen.
Er hatte im vergangenen Monat einen Plan vorbereitet, den er bei einem früheren Opfer erfolgreich umgesetzt hatte. Ihm war durchaus bewusst, dass die Polizei bei Todesfällen ermittelte und deshalb hatte er immer darauf geachtet, dass eine natürliche Ursache in den Berichten stand. Vermutlich war die Verbindung zwischen ihm und Petko zu naheliegend. Der Erfolg der letzten Jahre hatte ihn die Risiken übersehen lassen. Außerdem hatte er keine Zeit gehabt, um ein anderes Opfer zu finden. Das Verlangen ließ sich nicht dauerhaft ignorieren.
Auf dem Schreibtisch lag die Zeitung, die er heute Morgen zusammen mit dem Tee ignoriert hatte. Er schlug sie auf und überflog die Schlagzeilen. Dass die Leiche identifiziert worden war, hatte die Polizei nicht an die Presse weiter gegeben. Er hatte jeden Tag nach einer entsprechenden Meldung gesucht.
Der Polizist hatte ihm gegenüber nicht offen von einem Mord gesprochen und für die erfahrenen Beamten wirkte ein Unfalltod vermutlich ebenso plausibel wie ein Tötungsdelikt. Bis zum Abschluss der Ermittlungen würden sie nichts an die Zeitung weiter geben. 
Es hatte wie ein Unfall aussehen sollen.
Wie beim letzten Mal hatte er sich auf die Medikamente verlassen. Er hatte sich angewöhnt, seine Opfer unauffällig ruhig zu stellen. Fast jeder nahm heute das ein oder andere Schlafmittel. Bei Petko hätte auch Wodka gereicht und es wäre stressfreier und günstiger gewesen. Mit Bedauern fielen ihm die Whiskey-Flaschen ein, die in seinem Wohnzimmerschrank standen. Sie hätten wenigstens eine sinnvolle Verwendung gefunden. Die Gedanken kamen zu spät, aber er behielt sie im Hinterkopf. Für das nächste Mal, falls es eins gab.
Shane war auf Seite zehn der Zeitung angekommen und erinnerte sich an keine einzige Zeile. Seufzend faltete er sie zusammen und legte sie beiseite. Sein Blick blieb an den Tassen hängen, aus denen die Kommissare getrunken hatten. Erneut fragte er sich, ob er hätte mitgehen sollen. Er würde es wieder tun, sehr bald. 
Im September hatte er das feine Ziehen verspürt. Das Verlangen nach einem neuen Opfer. In der kleinen Stadt gestaltete sich die Suche delikat und schwierig. Als Pfarrer war er in die Seelsorge der Gemeinde fest eingebunden. Montags besuchte er das Krankenhaus, dienstags den Obdachlosentreff und mittwochs das Bordell. Er ging auch dorthin, wo seine Kollegen wegsahen. Dort waren die Menschen, die seine Unterstützung dringend benötigten. Shane war ein frommer Mann und wollte ihnen helfen. Seit Jahren war er praktisch jedem in diesen Milieus bekannt. 
Aus diesen Kreisen wählte er seine Opfer. 
Es verwunderte niemanden, wenn Todkranke starben, Drogensüchtige eine Überdosis nahmen oder Obdachlose spurlos verschwanden. Und keiner fragte, warum diese Menschen vorher mit ihrem Pfarrer gesprochen hatten. In den letzten sechs Jahren hatte die Polizei nur ermittelt, um die Identität der Toten zu bestätigen und die bestattungspflichtigen Personen auszumachen. 
Petko gehörte nicht dazu.
Petko war ein Fehler gewesen. 
Aber weder im September noch im Oktober hatte er ein geeignetes Opfer gefunden. Die todkranken Menschen im Krankenhaus interessierten sich nicht für geistlichen Beistand und eine neue Initiative holte die Obdachlosen von der Straße, sodass diese keine Pläne hatten, fortzugehen. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass er selbst diese Initiative mitbegründet hatte. Aus dem Ziehen hatte sich Ende Oktober eine Übelkeit entwickelt, die ihn morgens und abends plagte. Zusätzlich wurde aus dem leisen, gelegentlichen Flüstern in seinem Kopf eine omnipräsente Stimme, die echte Gesprächspartner durchaus übertönte. Abhilfe schaffte kurzfristig das ein oder andere Medikament, doch langfristig nur ein Mensch.
Shane stand auf und horchte an der Tür. In der Ferne hörte er eine Unterhaltung. Das Tablett mit den Tassen störte ihn, aber er hatte kein Interesse, erneut auf die beiden Beamten zu treffen. Er wollte mit einer Person für eine Stunde allein sein. Er stellte sich einen Hals vor, auf den er seine Hände legte. Geweitete, ängstliche Augen, die ihm entgegenblickten. Aus dem Schrecken wurde Erkenntnis. Und das Verlangen würde verschwinden.
Er blinzelte und war zurück in seinem Büro. Mit Mühe unterdrückte Shane ein Wimmern. Die Vision war für einen Moment so real gewesen. Seine am Türrahmen festgekrallten Finger traten weiß vom Druck hervor. Die Erregung ließ sein Herz schmerzhaft Pochen. 
Ich kann das nicht mehr.
»Wie wäre es mit der Witwe Vali? Ich denke gerade an einen Selbstmord.«
Nein!
Er setzte sich zurück an den Schreibtisch und betrachtete seine zitternden Hände. Solche Symptome kannte er von den Suchtkranken, mit denen er zusammen arbeitete.
»Du bist auf Entzug und brauchst deine Droge. Schnapp dir heute Nacht doch einfach jemanden aus dem Park.«
Das wäre ein Fehler. Wie Petko.
Er schluckte und verbarg das Gesicht wieder hinter seinen Händen.
Als Petko im November der Gruppe fern blieb, hatte Shane darüber nachgedacht, es zu ignorieren. Mit den kürzer werdenden Tagen wurden seine Kirche und sein Terminkalender voller. Keine Zeit, um sich um einen Säufer zu kümmern, der nicht wollte. Pflichtbewusst hatte er trotzdem die Ehefrau informiert, denn die regelmäßige Teilnahme an den Treffen war eine Übereinkunft, um ihre Ehe zu retten. Um Frau Vali zu helfen, hatte er ihren Ehemann gesucht und versucht, ihm ins Gewissen zu reden. In der Kneipe hatte er ihn gefunden. Petko hatte ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er kein Interesse an weiterer Hilfe hatte, indem er auf Shane eingeschlagen hatte. Mit diesem Faustschlag hatte er sein Leben beendet.
Es ging nicht um Rache. Die hätte Hass vorausgesetzt und so intensive Gefühle waren ihm praktisch fremd.
Es störte ihn folglich nicht, dass Petko trank und seine Mitmenschen schlug. Aber er hatte ein Opfer gebraucht und diesen Mann hätten nur wenige Menschen vermisst. Frau Vali hatte so außerdem die Scheidung erhalten, die sie sich insgeheim seit Jahren wünschte. 
Eine rein rationale Entscheidung.
Shane hatte sich an einen Plan aus seiner Zeit in Berlin erinnert. Die Polizei hatte den Tod der Frau damals als Unfall eingestuft. Er hatte sie betäubt und in seiner Badewanne ertränkt, in die er vorher einige Liter Wasser aus der Spree gefüllt hatte.
Um Petko ein ähnliches Ableben zu bescheren, hatte er über Tage nach Sonnenuntergang Wasser aus dem hiesigen Fluss gesammelt. Das Opfer kam von selbst zu ihm. Der streng katholische Mann hatte sich am nächsten Tag bei Shane gemeldet und um Vergebung gebeten. Er hatte auf ein persönliches Treffen bestanden und den 30. November ausgewählt. Samstag Abend war er immer allein in seiner Kirche.
Um 20:43 Uhr hatte Petko Vali das letzte Mal in seinem Leben an eine Tür geklopft, 13 Minuten zu spät. Shane ärgerte sich, dass er das Vorhaben dort nicht direkt verworfen hatte. Ein Plan war zum Scheitern verurteilt, wenn schon der Anfang nicht klappte. Anderseits hatte ihm das Verlangen keine Wahl gelassen. Wie ein Schäfchen zur Schlachtbank hatte sich der vom Regen völlig aufgeweichte und von seinen Schuldgefühlen aufgelöste Mann führen lassen. In Shanes Wohnzimmer hatten sie zusammen Tee getrunken. Auf diese Weise ließen sich Betäubungsmittel unbemerkt verabreichen. 
Routiniert hatte er Petko getröstet und ihm die letzte Beichte abgenommen. Es gab keinen Grund, seinen Opfern die Absolution und damit das Himmelreich zu verwehren. Sie hatten geredet, bis der alte Mann langsamer und gedehnter sprach. Dies hatte Shane als sein Stichwort wahrgenommen. Er hatte ihn ins Badezimmer geführt, in dem das Vollbad mit Flusswasser wartete. 
Doch die Betäubung hatte nicht wie gewünscht gewirkt. Beim Anblick der Wanne hatte Petko sich wie eine Wildkatze gewehrt und versucht zu fliehen. Es kam zu einem Kampf und am Ende hatte Shane den Mann von sich gestoßen.
Er seufzte und ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. Er hätte die Erinnerung gerne verdrängt, doch die Bilder strömten ungefragt in seinen Geist. Nach dem Gerangel hatten ihn leere Augen angestarrt. Einer der Haken, an dem seine Handtücher hingen, hatte sich in Petkos Hinterkopf gebohrt und dabei tödlich verletzt. Mit Entsetzen hatte Shane festgestellt, dass dieser Mord das Verlangen nicht vertrieb. 
Ja, töten war für ihn wie eine Droge, aber dieses Mal die Falsche. Nach dreißig Jahren hatte er gelernt, dass das Wie ihm Befriedigung brachte. Deswegen war die Stimme in seinem Kopf weiterhin so laut wie die seiner Mitmenschen und er müde und ausgelaugt.
Er hatte Petko trotzdem in den Fluss geworfen und gehofft, dass die Kopfverletzung einem Stein zugeschrieben wurde. Den Haken hatte er gesäubert und in eines der Pakete gesteckt, die von seiner Gemeinde in die ganze Welt verschickt wurden.
»Jetzt ermittelt die Polizei wegen Mordes.«
Das steht nicht fest, du hast sie doch selbst gehört.
»Und du hast sie angelogen und sie wissen das.«
Träume ich deshalb von ihm? Von meinem eigenen Tod?
Ein weiteres Mal erinnerte er sich an die Eindrücke der letzten Nacht. Sein Ebenbild, das ihn erstochen hatte. Das Eintauchen im eiskalten Fluss. Aber der Traum hatte nicht im Wasser geendet. Er hatte gelegen und war nicht allein gewesen. Eine Stimme, wie die einer Frau. Ähnlich wie die der Kommissarin.
Es klopfte an der Tür, die schwungvoll geöffnet wurde. Shane riss den Kopf nach oben, und die Bilder verschwanden aus seinem Geist. 
In der Tür stand Jens Rohn, sein Diakon, und schaute fragend in den Raum. Er war vor etwa 18 Monaten zu ihm in die Gemeinde gekommen und ein herzensguter Mensch, neigte aber zu unbeholfenen Fragen. »Ah, Shane, weißt du, wie spät es ist?«
Er blickte dem jungen Mann ins Gesicht und hob den Zeigefinger. Doch bevor er etwas sagen konnte, flötete hinter Jens eine rauchige Stimme »Herr Pfarrer, haben Sie uns vergessen?«
Sein Blick wanderte auf die Karte mit den Terminen.
12:30 Uhr, Treffen mit dem Kirchenverein → Basar
Er rollte mit den Augen.
Jens wurde von sechs Frauen zur Seite geschoben, die in den Raum drängten. 
»Ich nehme das mal mit, ja?« Sein Diakon ergriff das Tablett auf dem Schreibtisch und die Möglichkeit zur Flucht. Eilig schloss er die Tür. 
Shane schaute zu der Gruppe auf, die eine penetrante Parfümwolke vor sich her trieb. Diese Damen waren in dieser Stadt geboren, in dieser Gemeinde getauft und hatten in den letzten wenigstens 50 Jahren jede freie Minute hier verbracht. Er war der Pfarrer, aber die Frauen des Kirchenvereins waren die Kirche. In ihrer Gegenwart fühlte er sich oft nur geduldet, wenn sie Veranstaltungen oder Anschaffungen planten. Der Geräuschpegel nahm drastisch zu und er eilte ans Fenster, um dieses zu öffnen und dem Parfüm entgegenzuwirken.
Er war sich sicher, dass es in der Hölle einen speziellen Kreis für sündige Pfarrer gab, die dort mit ihrem Förderverein Spendenbasare planen mussten.
Die sechs Damen besetzten fröhlich schnatternd sein Büro.
»Du hättest dich verhaften lassen sollen!«

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